Gastbeitrag von Markus Nessler, Rechtsanwalt
Viele Jahre haben qualitätsorientierte Industrie- und Handelsunternehmen zugeschaut, wie mit einer Vielzahl politischer Fehlentscheidungen der Wirtschaftsstandort Deutschland demontiert wurde. Die Folge ist, dass aktuell viele – an sich gesunde – Unternehmen aufgrund dieser äußeren Einwirkungen und trotz aller internen Optimierungen in wirtschaftlicher Hinsicht aus dem letzten Loch pfeifen. Jetzt gilt: Wer in einem rezessiven und disruptiven Marktumfeld überleben will, muss sich auf die Stärke seiner Marke, die Qualität seiner Produkte und der Erzielung von Deckungsbeitrag im Vertrieb besinnen.
Der Wunsch nach mehr Markenführung und Vertriebssteuerung treibt viele Entscheidende in Geschäfts- und Vertriebsleitungen um. Obwohl zum Teil sogar bestimmte Vertriebssysteme mit viel Kosten- und Zeitaufwand eingeführt wurden, werden die wirklichen Kanalkonflikte nicht gelöst. Trittbrettfahren im Handel sind dadurch in der Lage, grenzüberschreitend Vertriebsstrukturen von Markenherstellern zu torpedieren. Die erste wichtige Erkenntnis ist hierbei, dass solche Schwierigkeiten meist von den Markenvertrieben hausgemacht sind. Der Grund hierfür ist, dass die interdependente Wirkweise insbesondere von Vertriebssystem, Sortimentsgestaltung und Bezugskonditionssystem nicht erkannt beziehungsweise verstanden wurde.
Neue Vertikal-GVO – Neue Chancen für Markenvertriebe
Grund genug, sich damit zu beschäftigen und in diesem Zuge zu prüfen, welche neuen Chancen sich für Markenhersteller mit der seit 2022 EU-weit gültigen Vertikal-GVO ergeben. Markenvertriebe können ihren Händlern die Nutzung von Online-Auktionsplattformen und Online-Marktplätzen grundsätzlich untersagen. Zudem können für die Nutzung von Produkt- und Preissuchmaschinen bestimmte qualitative Vorgaben gemacht werden. Es können auch Unterschiede in der konditionellen Gestaltung hinsichtlich vom Händler online oder stationär verkaufter Produkte vorgenommen werden. Weiter können je Landesmart selektive und exklusive Vertriebssysteme nebeneinander betrieben werden. Die neue Vertikal-GVO erlaubt in einem Landesmarkt auch die „exklusive“ Zuweisung von Gebieten oder Kunden(gruppen) an bis zu fünf (Groß-)Händler. Neu ist auch, dass ein Markenhersteller nicht nur seinem direkten Abnehmer Gebietsbeschränkungen auferlegen, sondern von seinem Abnehmer verlangen kann, dass dieser die Gebietsbeschränkungen seinen eigenen direkten Abnehmern auferlegt. Dadurch können selektive Vertriebssysteme vor aktiven Verkäufen aus exklusiven Vertriebsgebieten und innerhalb eines exklusiven Vertriebsgebiets nun mehrere Händler vor aktiven Verkäufen anderer Händler geschützt werden. Es gibt auch neue Möglichkeiten für das Projekt- und Objektgeschäft. Die Liste ließe sich noch um einiges verlängern. Wichtig ist jedoch, dass diese Vertragsregelungen gut geprüft sowie legal vereinbart und legal umgesetzt werden müssen.
Zwischen Hammer und Amboss – Zeit für aktive Führung
In unsicheren Zeiten profitieren wie immer diejenigen, die gut vorbereitet sind. Dies gilt insbesondere für mittelständische Markenhersteller. Schwierig ist die Sandwich-Position, weil einerseits die Verkaufszahlen im Handel zurückgehen und andererseits die Kosten insbesondere für Vorprodukte und Energie weiterhin sehr hoch sind.
In dieser Situation müssen sich Markenhersteller auf margenträchtiges Geschäft besinnen. Es geht also nicht darum, möglichst viel Geschäfte abzuwickeln, sondern seine Kräfte auf möglichst lukrative Geschäfte zu fokussieren. Diese Möglichkeit steht aber vielen Lieferanten nicht offen, weil sie sich in ihren Lieferverträgen insbesondere gegenüber nachfragemächtigen Handelsformationen verpflichtet haben, jede Bestellung anzunehmen und auszuführen. Hinzu kommt, dass in der Konsumgüterindustrie viele Lieferanten aufgrund entsprechender Vorgaben in den handelsseitig gestellten Einkaufsbedingungen ihre Abgabepreise an den Handel nicht bedarfsgerecht gestalten oder anpassen können. Regelmäßig sind hierfür zeitraubende Verhandlungen und Umsetzungsprocedere einzuhalten. Schließlich müssen vor allem kleine und mittlere Markenhersteller in der Regel alleine bei nachfragemächtigen Handelsoligopolen vorreiten und versuchen, ihre wirtschaftlichen Interessen (alleine) durchzusetzen.
Es ist mehr möglich, als Sie denken
Diese schwierige Gemengelage führt nicht selten dazu, dass sich Markenvertriebe macht- und wehrlos fühlen. „Da kann man doch sowieso nichts machen“, höre ich dann oft. Aber das stimmt nicht. Es gibt für Markenhersteller verschiedene Möglichkeiten, sich neu aufzustellen. Die maßgeblichen Stellschrauben sind hier eine kluge Vertriebsstrategie und deren wirksame Um- und Durchsetzung über ein selektives Vertriebssystem mit geeigneter Bezugskonditionsstruktur, einer klugen Sortimentszuweisung und der Autorisierung von geeigneten stationären und elektronischen Verkaufspunkten. Auch bestehen auf kooperativer Ebene mit anderen kleinen und mittelständischen Lieferanten deutlich mehr Handlungsspielräume, als gemeinhin gedacht wird.
Die Umsetzung einer zukunftsfähigen Vertriebsstrategie ist Knochenarbeit, aber sie ist zur Sicherung des Unternehmensfortbestandes notwendig. Das sehe ich in meiner täglichen Praxis, wenn sich meine Mandanten aufgrund ihrer neu abgeschlossenen Vertriebs- und Konditionsverträge nun eben andere Vertriebsstrukturen und mithin auch Verhandlungspositionen gegenüber ihren Absatzmittlern erarbeitet haben.
Online mit Offline versöhnen
Klar ist aber auch, der Online-Handel ist gekommen, um zu bleiben und wird an Bedeutung weiter gewinnen. Wenn ich daher in selektiven Vertriebsverträgen von eher schwachen Vertriebsorganisationen Passagen lese, die die Nutzung des Internets für den Vertrieb der Vertragsprodukte erschweren sollen, weiß ich, dass denen noch sehr grundsätzliche Umdenkprozesse bevorstehen. Hintergrund solcher Regelungen ist die meist naive Hoffnung, man könne damit den stationären Fachhandel vor dem bösen Online-Handel beschützen. Mal abgesehen davon, dass die rechtliche Zulässigkeit solcher vertraglichen Regelungen dringend überprüft werden sollte, halte ich solche Herangehensweisen auch für ungeeignet.
In allen Bereichen der Konsumgüterindustrie geht es für Markenhersteller vor dem eigentlichen Verkauf darum, überhaupt Teil der Kaufentscheidung des Endkunden zu werden. Zumindest die Vorauswahl findet immer öfter online statt. Wenn eine Marke jedoch auf bestimmten (Online-) Handelsformaten nicht vertreten ist, stellt sich die Frage, ob beziehungsweise wie sonst Endkunden die Produkte dieses Markenhersteller finden und in ihre Kaufentscheidung einbeziehen sollen. Endkunden sind in diesem Zusammenhang die Befindlichkeiten sowohl des Markenherstellers als auch der eingeschalteten Absatzmittler übrigens völlig gleichgültig. Es liegt daher im originären eignen Interesse des Markenherstellers ein faires Level Playing Field zwischen den Kanälen national und international zu etablieren und mithin Online mit Offline zu versöhnen.
In diesem Sinne, werden Sie aktiv und stellen Sie Ihren Markenvertrieb auf Deckungsbeitrag ein. Ansonsten wird das der Insolvenzverwalter Ihres Unternehmens für Sie nachholen.
Zum Autor:
RA Markus Nessler MBA ist Rechtsanwalt, Unternehmer und Keynote-Speaker.
Er berät seit über 20 Jahren qualitäts- und marktführende Unternehmen aus zwölf Branchen der Konsum- und Gebrauchsgüterindustrie aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien, Polen, Neuseeland und den USA zu selektiven Vertriebssystemen. Zwischenzeitlich hat er über 60 Markenvertriebe von der strategischen Konzeption bis zur Um- und Durchsetzung ihrer selektiven Vertriebssysteme in Deutschland mit teilweisem Rollout in der EU begleitet. Weitere Informationen finden Sie auf seiner Internetseite.